Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) ist ein Schlüssel zur nachhaltigen Mobilitätswende. Doch obwohl das Deutschlandticket im Mai 2023 einen längst überfälligen Impuls zur Vereinfachung brachte, kämpfen Nutzer:innen weiterhin mit fragmentierten Strukturen, unübersichtlichen Tarifen und digitalen Barrieren.
Aktuelle Beispiele wie fehlerhafte Ticket-Apps in Berlin oder verspätete Busse im ländlichen Raum zeigen, dass der ÖPNV in Deutschland zwar politisch gewollt ist, in der Praxis aber oft schwer zugänglich bleibt.
Warum ist Bus- und Bahnfahren nicht einfach? Die strukturellen Bremsen reichen von regional abgeschotteten Verkehrsverbünden über widersprüchliche Abo-Modelle bis hin zu inkompatiblen technischen Lösungen. Der vorliegende Artikel analysiert die wichtigsten Hemmnisse und zeigt, wie moderne Konzepte – von On-Demand-Verkehren bis zu digitalen Bezahlsystemen – den ÖPNV zukunftsfähig machen können.
Tarifzonen, Abo-Wirrwarr und zersplitterte Verkehrsverbünde
Tarifzonen: Ein Flickenteppich statt Flatrate
Deutschland ist in über 60 Verkehrsverbünde aufgeteilt – und nahezu jeder nutzt ein eigenes Tarifsystem. Wer etwa mit dem Deutschlandticket im Raum Hamburg unterwegs ist, stößt schnell an Grenzen: Zwar gilt das Ticket im HVV, nicht aber automatisch in angrenzenden Verbünden wie dem NAH.SH. Statt einer nahtlosen Flatrate gibt es je nach Region unterschiedliche Regeln, Mitnahmemöglichkeiten und Preiszonen – oft mit Zusatzkosten. Diese Intransparenz führt dazu, dass Gelegenheitsnutzer:innen auf das Auto zurückgreifen, weil sie den Tarifdschungel nicht durchblicken.
Abo-Modelle: Vielfalt statt Vereinfachung
Vor Einführung des Deutschlandtickets hatten viele Verbünde eine Vielzahl an Monats- und Jahreskarten im Angebot – je nach Gültigkeit, Alter, Schulstatus oder Mitnahmeoption. Die Folge: Verwirrung. Zwar hat das 49-Euro-Ticket einheitliche Rahmenbedingungen geschaffen, doch auch hier gibt es Abweichungen: Manche Regionen erlauben die Fahrradmitnahme, andere nicht. Einige Apps benötigen ein separates Konto, andere erkennen das Ticket nicht automatisch. Hinzu kommt die Preisdebatte: Schon heute wird eine Erhöhung auf 58 Euro diskutiert – was die soziale Akzeptanz gefährden könnte.
Verkehrsverbünde: Regionale Silos statt nationaler Integration
Verkehrsverbünde sind historisch gewachsene Einheiten, oft entlang kommunaler oder Ländergrenzen organisiert. Das führt zu systematischen Brüchen: Unterschiedliche Fahrzeuge, eigene Fahrpläne, separate Ticket-Apps und inkompatible On-Demand-Angebote machen Reisen über Verbundgrenzen hinweg unnötig kompliziert. Auch technische Standards bei Fahrzeugen oder Ausschreibungen sind nicht einheitlich – was die Kosten erhöht und die Qualität reduziert. Für den Fahrgast zählt aber nur eines: Ankommen, unkompliziert und pünktlich. Doch genau daran scheitert das System vielerorts.
Auswirkungen auf Nutzer:innen – Frust statt Fahrfreude
Die strukturellen Schwächen des ÖPNV haben konkrete Folgen für Millionen Menschen. In Berlin etwa häuften sich zuletzt Beschwerden über die Ticket-App „BVG-Ticket“, die fehlerhafte Abbuchungen verursachte oder auf älteren Smartphones nicht mehr funktionierte. Wer keinen Zugriff auf digitale Geräte hat, steht im Regen – buchstäblich.
Auch finanziell ist der ÖPNV nicht immer attraktiv. Eine vierköpfige Familie zahlt für Einzelfahrten in vielen Städten mehr als für ein Tagesticket im Carsharing oder für den Benzinpreis einer Autofahrt. Laut einer Studie des Umweltbundesamtes von 2022 geben Haushalte mit niedrigem Einkommen überproportional viel für den Nahverkehr aus – sofern sie ihn überhaupt nutzen können.
Gerade im ländlichen Raum fehlen zudem Taktung und Angebote: Wer morgens zur Arbeit will, aber erst um 8:30 Uhr einen Bus bekommt, wird dauerhaft auf das Auto angewiesen bleiben. Ein modernes ÖPNV-System muss aber flächendeckend, inklusiv und zuverlässig sein – das ist derzeit in vielen Regionen nicht gewährleistet.
Lösungsansätze: Was wirklich hilft
Deutschlandticket 2.0 – Tarifvereinfachung konsequent denken
Das Deutschlandticket ist ein Schritt in die richtige Richtung – aber es bleibt ausbaufähig. Experten fordern eine konsequente Vereinfachung: einheitliche Mitnahmeregeln, flexible Zusatzoptionen (z. B. Fahrrad, Kinder, erste Klasse) und vor allem: vollständige Integration aller Verbünde. Innovative Ansätze wie „KVV.homezone“ in Karlsruhe gehen bereits in diese Richtung, indem sie eine flexible Tarifzone um den Wohnort anbieten – individuell und digital buchbar.
Digitale Integration: Eine App für alles
Im Idealfall brauchen Nutzer:innen nur eine App, um Fahrpläne abzurufen, Tickets zu kaufen, On-Demand-Dienste zu buchen und Informationen zu erhalten. Erste Projekte wie LeipzigMOVE oder die App MOOVME in Sachsen zeigen, wie das gehen kann. Dennoch fehlt eine bundesweit standardisierte Lösung.
Ein Vorbild könnte Großbritannien sein: Dort genügt eine kontaktlose Kreditkarte, um mit Bussen und Bahnen zu fahren. Der Preis wird automatisch berechnet – maximal bis zur Tages- oder Wochenhöchstgrenze. Diese Bezahlmethode ist barrierefrei, schnell und intuitiv – genau das, was in Deutschland fehlt.
On-Demand-Verkehr und PlusBus: Mehr Angebot für weniger Taktung
In strukturschwachen Regionen kann ein dichter Bus- oder Bahnverkehr nicht wirtschaftlich betrieben werden. On-Demand-Dienste – buchbar per App oder Telefon – bieten hier eine Lösung. Sie sind flexibel, fahren nur bei Bedarf und reduzieren Leerfahrten. In Deutschland existieren bereits über 120 solcher Systeme, darunter der „SMILE24“-Verkehr in Sachsen-Anhalt oder „ioki“ in Hessen.
Ergänzt werden sie durch PlusBusse, die nach festem Stundentakt verkehren und an zentrale Umsteigepunkte angeschlossen sind. Diese Kombination kann auch in dünn besiedelten Gebieten Mobilität garantieren – vorausgesetzt, die Finanzierung wird gesichert.
Verbundharmonisierung: Einheit statt Vielfalt
Ein zentrales Ziel sollte die Vereinheitlichung von technischen Standards, Ausschreibungen und Fahrzeuganforderungen sein. Derzeit stellen einzelne Verbünde teils absurde Spezialanforderungen an Busse – was die Hersteller zwingt, kostspielige Einzelmodelle zu bauen. Eine Harmonisierung könnte nicht nur Kosten sparen, sondern auch den Wettbewerb stärken.
Verbände wie der VDV (Verband Deutscher Verkehrsunternehmen), MoFair oder der Bundesverband Schienennahverkehr (BSN) arbeiten bereits an Selbstverpflichtungen und standardisierten Prozessen. Hier ist jedoch auch die Politik gefragt, koordinierend und fördernd einzugreifen – gerade bei länderübergreifenden Verbünden.
Ausblick: Wie es besser werden kann
Der Weg zu einem modernen, bürgernahen ÖPNV ist lang – aber gangbar. Kurzfristig sollten die bestehenden Abo-Modelle weiterentwickelt, Preissteigerungen sozial verträglich gestaltet und digitale Schnittstellen vereinheitlicht werden. Eine App für alle Mobilitätsformen – inklusive Bus, Bahn, Sharing und On-Demand – wäre ein Meilenstein.
Mittelfristig müssen On-Demand-Verkehre, PlusBusse und Mobilitätshubs stärker ausgebaut werden – gerade im ländlichen Raum. Ergänzend sollte es Modellregionen geben, in denen innovative Bezahlsysteme wie NFC getestet und bei Erfolg bundesweit ausgerollt werden.
Langfristig führt kein Weg an einer national einheitlichen ÖPNV-Struktur vorbei. Verkehrsverbünde sollten nicht mehr als Einzelinteressen agieren, sondern gemeinsam Standards setzen – tariflich, technisch und organisatorisch. Die Finanzierung muss dabei über klare Regio-Mittel des Bundes oder zweckgebundene Mittel aus CO₂-Steuern sichergestellt werden.
Komplex, ineffizient und oft wenig nutzerfreundlich
Der ÖPNV in Deutschland ist komplex, ineffizient und oft wenig nutzerfreundlich – nicht weil es an guten Ideen mangelt, sondern an ihrer konsequenten Umsetzung. Die zentrale Hürde liegt im föderalen Denken: Verkehrsverbünde agieren zu oft als Inseln statt als Netzwerk. Wer den ÖPNV attraktiver machen will, muss diese Strukturen aufbrechen.
Das bedeutet nicht zwangsläufig Zentralisierung, sondern Harmonisierung: gleiche Standards, kompatible Technik und verständliche Tarife. Nur so wird das Versprechen eingelöst, das mit dem Deutschlandticket begonnen hat: ein ÖPNV, der wirklich für alle funktioniert – einfach, günstig und verlässlich.
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