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Schaffner – wie Zugbegleiter die Verrohung der Gesellschaft erleben

Der Bahn-Alltag wird rauer

Andreas Bialas ist ein erfahrener Zugbegleiter. Seit 30 Jahren arbeitet er bei DB Regio und hat auf deutschen Bahnstrecken vieles erlebt. Doch in den letzten Jahren hat sich etwas verändert. „Früher war das ein respektierter Beruf“, sagt er in einem aktuellen Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Heute habe ich manchmal Angst.“ Was früher seltene Ausnahmen waren – Pöbeleien, Respektlosigkeit oder sogar Gewalt – ist für viele Kolleginnen und Kollegen inzwischen Teil des Alltags. Die Verrohung der Gesellschaft, über die Soziologen und Politiker seit Jahren sprechen, ist für Schaffner*innen längst kein abstraktes Konzept mehr. Sie erleben sie hautnah.

Der Alltag im Zug: Zwischen Bodycam und Bodycheck

Wenn Andreas Bialas morgens zur Arbeit geht, gehört zur Standardausstattung nicht nur die Dienstkleidung und ein Lächeln für die Fahrgäste. Er trägt auch eine Bodycam und hat Pfefferspray griffbereit. Ein Notrufknopf verbindet ihn im Ernstfall direkt mit der Leitstelle. Diese Vorkehrungen sind längst keine Ausnahme mehr. Sie sind notwendig geworden – nicht wegen technischer Gefahren, sondern wegen der Menschen.

Bialas berichtet von Situationen, in denen Fahrgäste aggressiv wurden, weil sie kein Ticket hatten oder sich kontrolliert fühlten. Die Reaktionen reichen von lauten Beschimpfungen bis hin zu körperlichen Angriffen. In einem Fall wurde ihm eine Ohrfeige verpasst – mitten im Regionalzug bei Gießen. Besonders problematisch seien bestimmte Gruppen: alkoholisierten Fußballfans, Jugendlichen in aggressiver Stimmung oder stark gestresste Einzelpersonen, die schon verbal aufgeladen in den Zug steigen.

Auch andere Zugbegleiterinnen und -begleiter berichten von ähnlichen Erlebnissen: angespuckt, bedroht, beleidigt. Manche tragen die psychische Belastung bis in die Freizeit. „Ich kann keine Filme mit Gewalt mehr sehen“, sagt Bialas. „Was ich im echten Leben erlebe, reicht.“

Die gesellschaftliche Verrohung – ein gesamtdeutsches Phänomen

Was Andreas Bialas erlebt, steht exemplarisch für eine breitere gesellschaftliche Entwicklung. Laut einer aktuellen Umfrage der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes geben 83 Prozent der Mitarbeitenden an, eine Zunahme von Gewalt gegen sich oder Kolleg*innen wahrzunehmen. Jeder vierte Beschäftigte hat bereits körperliche Angriffe erlebt – Tendenz steigend.

Diese Eskalation ist nicht nur in Zügen spürbar, sondern auch in Krankenhäusern, Schulen und Behörden. Die Ursachen dafür sind vielfältig: zunehmende soziale Spannungen, anhaltender wirtschaftlicher Druck, ein allgemein aggressiverer öffentlicher Diskurs, befeuert durch soziale Medien und politische Polarisierung. Im öffentlichen Raum, wo Menschen unterschiedlicher Herkunft, Meinungen und Lebenslagen aufeinandertreffen, verdichten sich diese Spannungen.

Im Zug, einem engen Raum mit begrenzten Fluchtmöglichkeiten, wird das besonders deutlich. Zugbegleiter sind dabei nicht nur Ansprechpartner für Fahrgäste, sondern in vielen Fällen auch Blitzableiter für Frust, Ärger oder Enttäuschung. Sie vertreten das System – und das bekommt zunehmend Risse.

Zwischen Angst, Rückzug und Professionalität: Die emotionale Belastung

Zugpersonal wie Bialas sehen sich mit einer paradoxen Situation konfrontiert: Sie sollen freundlich, serviceorientiert und gleichzeitig konsequent in der Fahrgastkontrolle sein. Doch wer heute ein Ticket sehen will, muss mit Widerstand rechnen. Die Folge: Viele Mitarbeitende entscheiden sich, heikle Situationen zu meiden. „Manchmal drehe ich einfach um“, gesteht Bialas. Das Gefühl, nicht geschützt zu sein, lähmt das Selbstverständnis des Berufs.

Neben der körperlichen Gefahr belastet vor allem die psychische Komponente. Die ständige Wachsamkeit, das Wissen, dass jede Begegnung eskalieren kann, macht krank. Schlafstörungen, Nervosität, Reizbarkeit – viele der Symptome sind typisch für Stressreaktionen auf anhaltende Unsicherheit. Einige Kolleg*innen denken sogar über einen Berufswechsel nach. Dabei ist der Personalmangel im Bahnsektor ohnehin bereits gravierend.

Folgen für Fahrgäste und den öffentlichen Verkehr

Was oft übersehen wird: Die Verrohung betrifft nicht nur das Zugpersonal. Auch Fahrgäste spüren die Veränderung. Wenn Zugbegleiter eingeschüchtert agieren, nehmen Sicherheit und Ordnung im Zug ab. Konflikte werden nicht mehr geklärt, sondern ignoriert – aus Selbstschutz. Das führt zu einem Teufelskreis: Je mehr sich Mitarbeitende zurückziehen, desto mehr breiten sich aggressive Verhaltensmuster aus.

Auch das Sicherheitsgefühl der Fahrgäste leidet. Wer Zeuge von Gewalt wird oder spürt, dass das Personal sich nicht mehr einmischt, fühlt sich ungeschützt. Der öffentliche Nahverkehr verliert damit seine Funktion als sicherer Raum. Für viele ist die Bahn dann keine Option mehr – mit ökologischen, sozialen und ökonomischen Folgen.

Was unternimmt die Bahn – und was nicht?

Die Deutsche Bahn hat auf die Entwicklungen reagiert. Neben der Ausstattung mit Bodycams und Notrufsystemen gibt es Schulungen zur Deeskalation und psychologischen Unterstützung. Mobile Sicherheitsteams sollen Präsenz zeigen, besonders auf bekannten Problemlinien oder bei Fußballspielen.

Doch reicht das? Viele Betroffene bezweifeln das. Es gehe nicht nur um Technik, sondern um Haltung. Wenn Übergriffe nicht juristisch verfolgt oder gesellschaftlich geächtet werden, bleiben die Täter oft folgenlos. Bialas formuliert es so: „Ich will nicht, dass der Staat mich mit Technik ausstattet – ich will, dass er hinter mir steht.“

Gesellschaftliche Verantwortung und der Weg zu mehr Respekt

Es ist zu einfach, die Schuld bei Einzelfällen zu suchen oder nur auf die Bahn zu zeigen. Die Verrohung ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Wenn in Talkshows Hass salonfähig wird, wenn Menschen sich online in Aggression üben, dann wirkt sich das auch auf den Alltag aus. Die Bahn ist nur ein Spiegel – ein verdichteter, beweglicher Ort, an dem Gesellschaft auf engem Raum sichtbar wird.

Was es braucht, ist ein grundlegender kultureller Wandel. Dazu gehören:

  • Frühzeitige Bildung über Werte wie Respekt, Rücksicht und Dialogfähigkeit
  • Stärkere juristische Verfolgung von Übergriffen auf Personal im öffentlichen Dienst
  • Klare Solidarität mit Betroffenen durch Politik und Öffentlichkeit
  • Mediale Verantwortung, gesellschaftlichen Ton zu zivilisieren statt zu schärfen

Eine Idee, die zuletzt in der Debatte aufkam, ist die Einrichtung von Ombudsstellen für öffentlich Bedienstete – ähnlich wie bei Polizei oder Verwaltung. Sie könnten auch dem Bahnpersonal eine Stimme geben und Missstände frühzeitig sichtbar machen.

Fazit: Die Bahn als gesellschaftlicher Brennspiegel

Der Beruf des Zugbegleiters war einst ein Symbol für Mobilität, Service und Freundlichkeit. Heute ist er ein Gradmesser für die Stimmung im Land. Was Andreas Bialas und viele seiner Kolleg*innen erleben, sollte uns alle aufrütteln: Wenn Menschen, die für die Allgemeinheit arbeiten, Angst haben müssen, wenn Gewalt zur „Berufsrisiko“ wird, dann ist das nicht nur ein Problem der Bahn – es ist eines der Gesellschaft.

Der Schutz dieser Menschen beginnt nicht nur mit Technik, sondern mit Haltung. Es braucht politische Entschlossenheit, gesellschaftlichen Konsens und mediale Verantwortung, damit Respekt kein Luxusgut wird. Wer heute Schaffnerinnen und Schaffner verteidigt, verteidigt ein Stück Zivilisation. Und das sollte uns allen wichtig sein.

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